Eine komplette Gebrauchshandschrift in einer recht sauberen Bastardschrift des 15. Jahrhunderts, die ein lateinisches Wörterbuch bzw. Glossar enthält. Die Worterklärungen sind meist ebenfalls lateinisch, werden aber gelegentlich, und gegen Ende hin häufiger, auf Deutsch ergänzt. Derartige Wörterbücher sind im mittleren bis späten 15. Jahrhundert im deutschen Sprachraum in zahlreichen Fassungen in Gebrauch gewesen, es gibt rein lateinische, lateinisch-deutsche, deutsch-lateinische ("Vocabularius Theutonicus") und solche von unregelmäßiger Mischung der Sprachen bei den Worterklärungen. Unsere Handschrift gehört zu den letzteren. Im 15. Jahrhundert entstand darüber hinaus, oft auf frühere Wurzeln zurückgehend, eine ganze Bandbreite von speziellen Wörterbüchern, wie das "Abstractum-Glossar", der "Vocabularius optimus", der "Vocabularius predicantium" und der "Vocabularius utriusque iuris". Diesen thematischen Wörterbüchern, die teils auch in Sachgruppen untergliedert sind, stehen allgemeine gegenüber, die in einfacher alphabetischer Reihenfolge einen bestimmten Gelehrtenwortschatz enthalten.
Am umfangreichsten darunter ist der "Vocabularius breviloquus" und der aus diesem hervorgegangene knappere "Vocabularius ex quo". Beide gehen auf die Zeit um 1400 zurück und schöpfen aus dem im Spätmittelalter gebräuchlichen großen Schatz von Worterklärungen in lateinischer und zum Teil auch in deutscher Sprache. Handschriftliche Überlieferungsstränge, die sich teils mehrfach überkreuzten, gab es natürlich einige, weshalb die aufgenommenen Wörter, bzw. Begriffe, und ihre Erklärungen oft voneinander abweichen. So ist es auch im Falle dieser Handschrift: Ihre Zusammenstellung basiert hauptsächlich auf zwei Traditionen, derjenigen des "Vocabularius ex quo" und der von dem Humanisten Johannes Reuchlin (1455-1522) in seiner Studienzeit in Basel um 1474-77 zusammengestellten Fassung des "Vocabularius breviloquus" ("cum arte diphthongandi, punctandi et accentuandi") in lateinischer und deutscher Sprache. Die Fassung Reuchlins zeichnet sich durch ihren Prolog aus, der mit dem Incipit einsetzt: "A a a domine (deus) nescio loqui quia puer ego sum" (aus Jeremias I, 6). Dieser Prolog, der auch in (wohl sämtliche) Inkunabeldruckfassungen eingegangen ist, findet sich in unserer Handschrift ebenso. Bereits 1477 ist ein erster Druck der Reuchlin-Fassung bei Winters in Köln erschienen, auch dieser mit dem Prolog. Unsere Handschrift muss also nach 1474/77 entstanden sein. Vergleicht man sie aber mit den Drucken des Reuchlinschen Breviloquus, so fallen immer wieder Abweichungen bei den Wörtern und ihrer Erklärung auf; andererseits finden sich Einträge, wie sie eigentlich im "Vocabularium ex quo" und seinen Drucken vorkommen. Der Schreiber unseres Manuskripts hat also aus verschiedenen Quellen geschöpft oder eine Fassung reproduziert, die ihm selbst als Handschrift oder Druck vorgelegen hat.
Da selbst intensive Suche uns nicht zu einer Druckfassung geführt hat, können wir diese wohl ausschließen, es bleibt die Abschrift einer Vorlage oder eine eigene Kompilation aus den Quellen. Die Verwendung einer einzigen handschriftlichen Vorlage ist allerdings auch unwahrscheinlich, wechselt der Schreiber doch inmitten des Buchstabens I in die Zweispaltigkeit, weil er wohl zweifelte, mit der vorgesehenen Bogenanzahl auszukommen. Das hat er dann beim Buchstaben M revidiert, ab "mendatas – betteleye" kehrt er zur Einspaltigkeit zurück. Am Ende blieben ihm noch einige Lagen, um weitere Texte aufzuschreiben. Mit einer einzigen Vorlage hätte sich das weit besser kalkulieren lassen, daher gehen wir bei dieser Handschrift von einer Kompilation verschiedener Quellen aus.
Das Wörterbuch umfasst die folia 1r-273v, dann folgen drei leere Blätter (fol. 274-76) und fünf weitere kurze lateinische Texte, wohl von anderen Händen, aber noch in einer Bastarda, die sicherlich nur wenig später eingetragen worden sind: I. Auszüge aus dem "Mammotrectus super Bibliam", ein franziskanisches Handbuch zur Bibelexegese, verfasst vermutlich Ende des 13. Jahrhunderts durch Johannes Marchesinus aus Imola. Unser Text stammt aus dem letzten Teil, in dem Liturgie und, wie hier, Hymnen behandelt werden (fol. 277r-285v). Er beginnt mit "Primo dierum etc. corporibus" und schließt mit der – hier wahrscheinlich hinzugefügten – Schlussformel: "et mereantur introire paradysum translati in requiem de labore amen".
II. Ein Traktat über die Physiognomie des Menschen (fol. 285v-286r), ein Auszug aus dem anonymen mittelalterlichen medizinischen Kompendium "Melleus liquor physicae artis", das früher dem "egregio physico" Alexander Hispanus zugeschrieben wurde, dessen Existenz heute aber stark angezweifelt wird (siehe: K. Sudhoff, Alexander Hispanus und das Schriftwerk unter seinem Namen. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin, Bd. 29, 1937, S. 289-312, und 30, 1938, S. 1-25, sowie I. Zachová, Dicta de disposicione hominis et eius membris Alexandri Hispani v rukopisu 113/110 svatojakubské knihovny v Archivu mesta Brna, in: Graeco-Latina Brunensia 18, 2013, H. 2, S. 199-214, hier: S. 208ff).
III. Rezepturen zum Aderlass in Reimform (fol. 286v) mit dem Initium "Luna ascendente". Der erste Absatz stammt vielleicht aus den sogenannten "Practica" des Bartholomaeus Salernitanus, der zweite enthält einen Text aus einem "Flos medicinae" genannten Codex, der aus der Schule von Salerno des hohen Mittelalters stammt (siehe S. de Renzi, Collectio salernitana, Neapel 1852, Bd. I, S. 493: VI. Teil, "Semiotica", Kapitel X: "Semiotice sanguinis amissi").
IV. Ein Traktat über die Beschaffenheit des Blutes (fol. 287r-288r) mit dem Initium "Tripliciter indicatur sanguis", das wir nicht nachweisen können.
V. Ein Rezept für ein Pflaster gegen Geschwüre (fol. 288v) mit dem Initium "Emplastrum optimum ponendum …", auch dieser Text für ist uns nicht nachweisbar, wahrscheinlich stammen beide aus einem Regimen sanitatis.
Auf der letzten Seite am unteren und oberen Rand (Besitz-)Vermerke der Zeit, aber ausgestrichen und mit Tinte unleserlich gemacht. – Papier mit dem Wasserzeichen eines Schwertes mit anliegendem kleinen Kreis, nachweisbar schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (sehr ähnlich: DE5580-Clm3874_257, Süddeutschland, erste Hälfte des 15. Jahrhunderts). – Der Codex ist nur zu Beginn rubriziert, das Initium ist in Rot geschrieben, ab etwa der Mitte wurden die Initialen nicht mehr eingemalt. – Vorne und hinten eingebunden je ein fliegender Vorsatz aus einem Makulatur-Doppelblatt, das aus einer deutlich älteren Pergamenthandschrift stammt. Sie enthält Texte des Kapitels "De fallaciis" ("von den Trugschlüssen") aus den "Summulae logicales", die um 1240 der Logiker Petrus Hispanus verfasst hat. Die winzige, stark gekürzte Minuskel stammt wohl aus der Zeit um 1300. – Eng gebunden, stellenw. mit Wurmspuren im weißen Rand, gering fleckig.
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