Ludwig Thomas auch als "Weihnachtslegende" bezeichnetes Versepos "Heilige Nacht" zählt heute, weit über den altbaierischen Sprachraum hinaus, zu den Klassikern weihnachtlicher Texte. Seine freie Nacherzählung des Evangelienberichts im gereimten Dialekt verleiht den biblischen Ereignissen durch ihre bildreiche Sprache und die Übertragung des Geschehens in das winterliche Bayern große Unmittelbarkeit, Volksnähe und eine ganz eigene, charaktervolle Lebendigkeit. Die Geschichte ist, mit viel Humor, überwiegend in Vierzeilern geschildert und zugleich voll von weihnachtlichen Stimmungsbildern, in die gerade auch die Natur und die Tierwelt einbezogen werden. Andächtig und rührend wird die Geschichte insbesondere in den eingefügten Gesängen, die besinnliche Ruhepunkte im Verlauf bilden. Doch liegt dem Ganzen eigentlich eine sozialkritische Intention zugrunde, was teils deutlich zum Ausdruck kommt, etwa in der negativen Darstellung der Reichen, die die heilige Familie abweisen, und wird am Schluss mit der Feststellung, dass das Christkind nur die Armen gesehen hätten, wie ein Fazit herausgestellt (so schon der Thoma-Biograf Fritz Dehnow: Ludwig Thoma München 1925, S. 41).
Das vorliegende Manuskript stammt von Thomas eigener Hand, in sauberer Niederschrift, aber noch mit vielen Korrekturen, die bereits damit anfangen, dass Thoma die sechs Teile zuerst als "Kapitel" bezeichnete, dann aber (wieder) durch das Wort "Hauptstück" ersetzt hat. Am Anfang des zweiten Bandes findet sich sogar eine ganze gestrichene Strophe, die eigentlich als die dritte des 5. Hauptstücks vorgesehen war: "Und horcha thuat, was no grad lebt,/Jedes Wild bleibt im Holz drinna steh’/Hamm d’Köpf alle furchtsam aufg’hebt/Und mög’n wohl koan Schritt nimma geh‘."
Während der erste Teil kein Datum enthält, ist der zweite am Ende datiert. Bisher war bekannt, dass Thoma den ersten Teil in einer Abschrift, datiert 14. 12. 1915, den beiden Töchter von Ignatius Taschner zum Weihnachtsfest 1915 geschenkt hat, eine mit durchgepausten Vignetten versehene Reinschrift. Der zweite handschriftliche Teil für die Schwestern folgte erst nach Weihnachten 1916, am Stephanitag, also dem 27. Dezember. Unser Manuskript des zweiten Teils lag aber bereits Ende Januar des Jahres vor. In der Monacensia in München, die den Thoma-Nachlass verwahrt, existiert ein Manuskript, das im Wesentlichen Skizzen zum sechsten Teil enthält. Diese Hand ist viel flüchtiger als in unserem Manuskript, doch völlig übereinstimmend in den Charakteristika, in beiden Fällen also zweifelsohne von Thoma selbst abgefasst. Tatsächlich muss dieses Manuskript noch vor dem unseren entstanden sein; es ist ein Fragment aus der Entwurfsphase (Bestand: Ludwig-Thoma-Archiv L 2335, dort als "erste Niederschrift" verzeichnet, was aber nicht zutrifft – es handelt sich vielmehr um die ersten Skizzen, während die erste (bekannte) komplette Niederschrift in unserem Manuskript vorliegt. Anfänglich war auch hier die Endfassung noch nicht erreicht, diese kam erst durch die vielen Korrekturen zustande. Unsere Handschrift ist demnach als jene endgültige Fassung zu identifizieren, aus der Thoma dann die sauberen, mit Vignetten verzierten Abschriften für die Taschner-Schwestern angefertigt hat (Monacensia L 1604). Somit entstand der erste Band unserer Fassung vor Mitte Dezember 1915, der zweite wird im Anschluss daran, über Weihnachten und den Jahreswechsel, bis zum 27. Januar 1916, niedergeschrieben worden sein. Thoma ließ das Werk alsbald drucken, der erste Korrekturbogen der Druckerei Hesse & Becker trägt das Datum Leipzig, 26. Februar 1916 (Monacensia L 2337). In unserem Manuskript sind in beiden Bänden kleine Herzen eingezeichnet, auch diese ohne Zweifel von Thomas Hand, wohl um Stellen für Vignetten oder andere Illustrationen zu markieren. Die Taschner-Schwestern erhielten ihren zweiten Teil erst kurz nach dem Weihnachtsfest 1916, also nach der Veröffentlichung. – Niedergeschrieben in zwei Notiz – oder Skizzenbüchern des Münchner Händlers für Künstlerbedarf, Adrian Brugger, im ersten Band auf unbeschnittenem Büttenpapier mit Wasserzeichen "M B M (France)", im zweiten auf Velin, dieses ohne Wasserzeichen, in beiden Fällen feste Papiere, die wohl zum Zeichnen gehandelt worden sind (Einbände mit Schlaufen als Bleistifthalter). – Gering gebräunt, kaum fleckig.